Inhalt des Stücks
Kriminalistisches Volksstück mit wahrem Hintergrund von Ödön von Horváth, in einer Bearbeitung von Heinz Oliver Karbus
Sie muss ein Engel gewesen sein, der zu irgendeiner Buße wieder auf die Erde hat kommen müssen und dann durch den Tod irgendwen erlöst hat. So muss es wohl gewesen sein.
Einer Erscheinung gleich begegnet die Unbekannte dem arbeitslosen Albert, der vor den Trümmern seiner Existenz steht. Wie ein Schatten begleitet sie ihn, weckt sein Interesse an ihr und wird zu seiner wichtigsten Stütze.
Vorbestraft und durch den Verlust seiner Arbeit mittellos geworden, kann Albert nur leidvoll mitansehen, dass sich seine große Liebe Irene bereits einem anderen Mann zugewandt hat. Mit gebrochenem Herzen schließt er sich seinen zwielichtigen Freunden Silberling und Nicolo an und plant einen Überfall auf die Kasse eines Uhrmachermeisters. Doch die Tat geht schief und schon steht die Polizei vor der Tür, die Aufregung am Ort ist groß.
Aber damit nicht genug: Ernst, Irenes neuer Geliebter, hat den Raub als Augenzeuge miterlebt und will diese Tatsache zu seinen Gunsten ausnützen. In dieser ausweglosen Situation begegnet Albert abermals die Unbekannte. Auch sie hat das Geschehen beobachtet und verschafft dem jungen Mann ein Alibi. Nun scheint sich doch noch alles zum Guten zu wenden, doch das Schicksal geht seine eigenen Wege…
Begleitende Worte
Nach seinen größten Erfolgen „Geschichten aus dem Wiener Wald“ und „Kasimir und Karoline“ schrieb Horváth 1933 „Die Unbekannte aus der Seine“. Seine Meisterschaft, mit spärlichen Dialogen große Geschichten zu erzählen, trieb er mit diesem Stück auf die Spitze. Wie Picasso mit wenigen Strichen eine Taube fliegen lässt, so erschafft Horváth mit wenigen Sätzen seine Figuren als leibhaftige Menschen. Bei Horváth findet das wahre Leben zwischen den Zeilen statt. Welch eine Herausforderung für jedes Ensemble und jeden Regisseur! Deshalb haben selbst große Theater vor diesem Autor einen Heidenrespekt. Denn es reicht bei Weitem nicht aus, den Text gut zu können, um ihn auf die Bühne zu bringen. Es erfordert spielerischen Mut.
Die Trauterfinger hatten den Mut, diese Herausforderung anzunehmen. Jeder einzelne Probentag war eine Freude. Das Stück, das beim ersten Lesen einen fast dürftigen Eindruck hinterlässt, entwickelte sich mit dem Ensemble zur komplexen Geschichte einer Gesellschaft, in der wir uns alle wiedererkennen, ob wir wollen oder nicht. Denn auch das macht die Trauterfinger aus: Sie wollen mehr als nur unterhalten. Sie wollen das Publikum zum Einhalten bewegen und ihm einen Spiegel vorhalten, in dem sie sich auch selber sehen.
Ich halte Ödön von Horváth für einen idealen Autor, all diesen Ansprüchen gerecht zu werden. Und die Trauterfinger haben das ideale Ensemble, die idealen MitarbeiterInnen hinter der Bühne und auch die ideale Spielstätte für „Die Unbekannte aus der Seine“. Besonders freue ich mich über die neuen Ensemblemitglieder, die sich uns heuer angeschlossen haben und mit ihrer Begeisterung und Freundschaft bereichern. Die Zusammenarbeit mit all den wunderbaren, für ihr Theater und ihr Publikum brennenden Menschen empfinde ich immer wieder als großes Geschenk.
von Oliver Heinz Karbus, 19.05.2024
Oliver Heinz Karbus führt auch in diesem Jahr wieder Regie beim Theaterverein und vermittelt den Akteuren das richtige Gefühl für ihre Bühnenrollen. Dafür möchten wir uns ganz herzlich bei ihm bedanken!
Die meistgeküsste Frau der Welt
Ihre Augen sind sanft geschlossen, ihre Haut ist glatt, die Wangen rund und voll. Die Haare gescheitelt und im Nacken zusammengebunden. Sie scheint jung, vielleicht sogar noch ein Teenager. Ihre Identität konnte nie geklärt werden, doch ihr Antlitz ist weltweit bekannt. Der rätselhaft friedvolle Gesichtsausdruck der Toten war Anlass für zahllose Spekulationen über ihr Leben, ihre Todesumstände und ihre Befindlichkeit im Jenseits.
Die Rede ist von der „Unbekannten aus der Seine“, einer etwa zwanzigjährigen Frau, die man angeblich um 1890 in Paris ertrunken aus der Seine geborgen hatte. Da man keine äußeren Gewalteinwirkungen feststellen konnte, schloss man auf einen Suizid.
Zu der Zeit war es üblich, Tote, deren Identität nicht geklärt werden konnte, öffentlich zur Schau zu stellen, in der Hoffnung, jemand würde die verstorbene Person erkennen. Das Leichenschauhaus Morgue in Paris befand sich damals direkt hinter der Kathedrale Notre-Dame, am Rande der Insel in der Seine, l’Île de la Cité. Auf einer schwarzen Marmorplatte nebeneinanderliegend wurden sie wie in einer Auslage hinter den großen Glasfenstern der Leichenhalle präsentiert.
Von dem Ort ging offenbar eine morbide Faszination aus – er war ein beliebtes Ausflugsziel für Passanten und sogar Familien. Die Pariser Bevölkerung sowie Touristen betrieben das Leichenschauen oft rein zur Unterhaltung. So soll es vor allem an Wochenenden ein großes Gedränge vor den Glasfenstern gegeben haben.
Auch die unbekannte Ertrunkene aus der Seine sei dort zu sehen gewesen sein. Doch niemand schien sie zu kennen oder zu vermissen. Berichten zufolge soll ein Mitarbeiter der Leichenhalle so fasziniert von ihrem Gesicht gewesen sein, dass er einen anfertigen ließ. Solche Totenmasken erhalten die letzten, scheinbar authentischen Gesichtszüge eines Menschen kurz nach dem Ableben.
Das Besondere an dem Frauengesicht, einem „Gesicht voller Rätsel“, war ihr Lächeln. Ein leichtes, glückseliges Lächeln ähnlich einer „ertrunkenen Mona Lisa“, wie es Albert Camus einst beschrieb. Ein Lächeln, das im Laufe der Jahre zahlreiche Schriftsteller und Künstler inspiriert hat, imaginäre Geschichten und Identitäten für das Mädchen zu entwerfen.
Darunter Rainer Maria Rilke, der sich etwa um die Zeit ihres Funds in Paris aufhielt und von dem ungewöhnlich friedlichen Lächeln der Unbekannten gehört haben musste. In seinem einzigen Roman „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ erwähnt er das Frauengesicht, „weil es schön war, weil es lächelte, weil es so täuschend lächelte, als wüßte es“. Die Bedeutung ihres Lächelns war ebenso unergründlich wie die Ursache ihres Todes.
Doch wer sie auch war, sie wurde zum Gegenstand zahlreicher Gedichte, Romane und Novellen, wie beispielsweise bei Louis Aragon, Max Frisch, Ödön von Horváth oder in Richard Le Galliennes „Worshipper of the Image“. Darin geht es um einen jungen Poeten, der sich von dem Abbild der Toten verzaubern lässt und daran zugrunde geht. In der Novelle „Die Unbekannte“ von Reinhold Conrad Muschler wird sie zu einem Waisenmädchen, das sich ertränkt, nachdem ein englischer Aristokrat sie verführt und dann verlassen hat.
Neben Büchern steht das sagenumwobene Gesicht auch im Zentrum etlicher philosophischer Schriften und Gedichte. Der Philosoph Maurice Blanchot beschrieb sie als „ein junges Mädchen mit geschlossenen Augen, das jedoch belebt war durch ein so entspanntes, beglücktes Lächeln […], dass man hätte glauben können, sie sei in einem Moment großer Glückseligkeit ins Wasser gegangen.“ Die Fakten waren so spärlich, dass jeder Schriftsteller auf dieses Gesicht projizieren konnte, was er wollte. War sie vielleicht gar kein Mensch, sondern ein Engel?
Auch die kriminalistische Tragweite nahm ungeahnte Züge an. Immer wieder schrieben Studenten Dissertationen, in denen sie den Fall untersuchten. In diesen Analysen sei die angeblich Ertrunkene alles, von einer argentinischen Sängerin bis zu einer französischen Bäuerin gewesen. Doch die Identität der jungen Frau bleibt ein Rätsel. Die Frau hat keinen Namen, keinen sozialen Körper, keine Geschichte.
Paris Ende des 19. Jahrhunderts. Die „Unbekannte“ soll angeblich in der Uferstraße Quai du Louvre aus dem Wasser gezogen worden sein.
Es entstand ein regelrechter Kult um die Totenmaske. Die Nachfrage nach dem Kunst-Objekt stieg. Sie wurde vielfältig in unterschiedlichsten Materialien und Größen reproduziert, ging sogar in Serienproduktion und fand regen Absatz.
Insbesondere in Künstlerkreisen und der Pariser Bohème wurde das Gesicht zum beliebten Dekorationsgegenstand, der nahezu jede Wohnung und jedes Atelier als morbides Einrichtungsaccessoire schmückte – in Schlafzimmern über Ehebetten, bald auch über die Grenzen Frankreichs hinaus. Der kulturelle Hype um den Abdruck des Jungmädchen-Kopfes hielt mehrere Jahrzehnte an.
Wie viel Wahrheit in der Legende tatsächlich steckt, bleibt offen. Doch auch heute noch ist das Frauengesicht auf der ganzen Welt präsent – in Form der Rettungspuppe „Anne“, die in Erste-Hilfe-Kursen Tag für Tag wiederbelebt wird. Der Arzt Peter Safar gilt als Begründer der modernen Reanimation und etablierte Mitte des 20. Jahrhunderts die heute noch angewandte Herz-Lungen-Wiederbelegungstechnik.
Ihm kam die Idee für eine Kunststoff-Puppe in Form eines menschlichen Rumpfes zu Übungszwecken. Er wandte sich an Asmund Laerdal, einen norwegischen Spielzeugfabrikanten, der persönlich an einer Übungspuppe interessiert war, da sein Sohn beinahe ertrunken wäre. Bei seinen Überlegungen zur Gestaltung der Puppe erinnerte er sich an die Totenmaske, die damals im Wohnzimmer seiner Großeltern gehangen habe. Er entschied, das vermeintliche Antlitz der „Unbekannten“ auf seine Erste-Hilfe-Puppe mit dem Namen „Resusci Anne“ zu übertragen.
Anfangs habe die Kunststoff-Figur ihrem Vorbild sehr geähnelt. Mittlerweile seien die Puppen, die noch immer von der Firma Laerdal hergestellt werden, um einiges abstrakter geworden. Doch seit 1960 üben an der „Little Anne“ Millionen Menschen weltweit Herz-Lungen-Massagen und Mund-zu-Mund-Beatmung. Deshalb wurde wohl kaum ein Gesicht so oft geküsst wie das ihre. Dadurch hat die „Unbekannte aus der Seine“ auf eine etwas andere Art wohl doch überlebt.
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Bildquelle: © H. Tschanz-Hofmann / Imago Images
Quellen: Stern.de, Museum für Sepulkralkultur, Primeros Blog